SECHSUNDVIERZIG
»Vergiss es. Du bist nicht mein Boss, Ever!«, schreit Riley mit verschränkten Armen und finsterer Miene und rührt sich nicht vom Fleck.
Ehrlich, wer hätte schon gedacht, dass eine vierzig Kilo schwere Zwölfjährige eine solche Naturgewalt sein könnte? Aber ich gebe auf keinen Fall nach. Sowie nämlich meine Eltern gegangen waren und Riley gefüttert und getränkt war, habe ich Brandon eine SMS geschickt und ihm geschrieben, er solle gegen zehn vorbeikommen, und das ist es jetzt gleich, also muss ich sie unbedingt ins Bett kriegen.
Ich schüttele seufzend den Kopf und wünschte, sie wäre nicht so verflixt stur, aber ich bin bereit für den Kampf. »Ähm, ich sag's dir ja nur ungern«, erwidere ich. »Aber du irrst dich. Ich bin dein Boss. Von dem Moment, als Mom und Dad gegangen sind, bis zu dem Moment, in dem sie wiederkommen, bin ich zu hundert Prozent dein Boss. Und du kannst diskutieren, so lange du willst, das ändert rein gar nichts.«
»Das ist so was von unfair!«, faucht sie. »Ich schwöre dir, sowie ich dreizehn werde, herrscht hier mehr Gleichberechtigung.«
Doch ich zucke nur die Achseln, da ich darauf ebenso begierig warte wie sie. »Super, dann muss ich wenigstens nicht mehr den Babysitter für dich spielen und kann mein Leben wiederhaben«, sage ich und sehe ihr zu, wie sie die Augen verdreht und mit dem Fuß auf den Teppichboden tippt.
»Also bitte. Hältst du mich für blöd? Glaubst du, ich weiß nicht, dass Brandon vorbeikommt?« Sie schüttelt den Kopf. »Wie aufregend. Wen juckt das schon? Ich will bloß fernsehen, weiter nichts. Du willst mich ja bloß deshalb loshaben, damit du das Fernsehzimmer für dich allein hast und mit deinem Freund auf dem Sofa rumknutschen kannst. Und genau das werde ich auch Mom und Dad erzählen, wenn du mich meinen Film nicht gucken lässt.«
»Wie aufregend. Wen juckt das schon?«, sage ich, indem ich sie bis hin zum Tonfall perfekt imitiere. »Mom hat mir erlaubt, Freunde einzuladen, ätschbätsch.« Doch sowie es heraus ist, winde ich mich innerlich und frage mich, wer hier das Kind ist, sie oder ich?
Ich schüttele den Kopf, da ich weiß, dass das nichts als eine weitere leere Drohung ist, doch da ich kein Risiko eingehen will, sage ich: »Dad will früh aufbrechen, und deshalb musst du genug schlafen, damit du morgen nicht total schlechte Laune hast. Und nur zu deiner Information: Brandon kommt nicht vorbei.« Ich grinse und hoffe, so die Tatsache zu vertuschen, dass ich eine miserable Lügnerin bin.
»Ach ja?« Sie lächelt, und ihre Augen leuchten auf, während sie den Blick auf mich richtet. »Warum ist dann gerade sein Jeep in unsere Einfahrt eingebogen?«
Ich drehe mich um und spähe aus dem Fenster, ehe ich mich erneut ihr zuwende und unhörbar aufseufze. »Okay. Schau deinen Film ruhig an. Was immer du willst. Ist mir doch egal. Aber wenn du Albträume davon kriegst, komm nicht heulend zu mir gekrochen.«
»Sag mal Ever, was hast du eigentlich?«, fragt Brandon, während sein Gesichtsausdruck binnen Sekunden von neugierig zu verärgert wechselt. »Über eine Stunde lang habe ich gewartet, bis deine kleine Schwester endlich ins Bett geht und wir ungestört sind, und jetzt benimmst du dich so. Was ist los?«
»Nichts«, murmele ich und weiche seinem Blick aus, während ich mein Oberteil zurechtziehe. Aus dem Augenwinkel beobachte ich, wie er kopfschüttelnd seine Jeans wieder zuknöpft - nachdem ich ihn gar nicht darum gebeten hatte, sie aufzuknöpfen.
»Das ist doch lächerlich«, knurrt er immer noch kopfschüttelnd, während er seinen Gürtel schließt. »Ich fahr den ganzen Weg hier rüber, deine Eltern sind weg, und jetzt benimmst du dich wie ...«
»Wie was?«, flüstere ich, weil ich will, dass er es sagt. Ich hoffe, er kann es in wenigen Worten zusammenfassen und definieren, was ich gerade durchmache. Denn als ich es mir vorhin anders überlegt und ihm die SMS geschickt habe, dass er vorbeikommen soll, dachte ich, das würde alles wieder ins Lot bringen. Doch sowie ich ihm die Tür aufgemacht habe, hätte ich sie am liebsten sofort wieder zugemacht. Und ganz egal, wie sehr ich mich auch bemühe, ich komme einfach nicht dahinter, warum ich so empfinde.
Ich meine, wenn ich ihn ansehe, liegt klar auf der Hand, wie glücklich ich mich schätzen darf. Er ist nett, er ist hübsch, er spielt Football, er hat ein cooles Auto, er ist einer der beliebtesten Jungs in seinem Jahrgang - ganz zu schweigen davon, dass ich schon so lange auf ihn stand, dass ich es kaum glauben konnte, als ich mitgekriegt habe, dass er auch auf mich steht. Doch jetzt ist alles anders. Und ich kann mich schließlich nicht dazu zwingen, Dinge zu empfinden, die ich nicht empfinde.
Ich hole tief Luft und bin mir der Last seines durchdringenden Blicks bewusst, während ich mit meinem Armband spiele. Ich drehe es herum und herum und versuche erneut, mich zu erinnern, woher ich es habe. Irgendein Anhaltspunkt spukt in meinem Hinterkopf herum, etwas in Richtung ...
»Vergiss es«, sagt er. »Aber das ist mein Ernst, Ever. Du musst dich bald entscheiden, was du willst, denn so ...«
Ich sehe ihn an und frage mich, ob er den Satz beenden wird, wobei ich staunend feststelle, dass es mir so oder so völlig gleichgültig ist.
Brandon greift nach seinem Autoschlüssel. »Was soll's. Viel Spaß am See«, sagt er.
Ich sehe zu, wie sich die Tür hinter ihm schließt, gehe zum Sessel meines Vaters, schnappe mir die Wolldecke, die meine Großmutter uns kurz vor ihrem Tod gestrickt hat, und wickele mich vom Kinn bis zu den Füßen darin ein. Ich muss daran denken, wie ich Rachel erst letzte Woche anvertraut habe, dass ich mir ernsthaft überlege, richtig mit Brandon zu schlafen, und jetzt - jetzt ertrage ich es kaum, wenn er mich bloß berührt.
»Ever?«
Ich schlage die Augen auf. Riley steht vor mir. Ihre Unterlippe zittert, und ihre blauen Augen sind auf meine gerichtet. »Ist er weg?« Sie sieht sich im Zimmer um. Ich nicke.
»Setzt du dich zu mir, bis ich eingeschlafen bin?«, fragt sie und beißt sich auf die Lippen, während sie mich mit diesem traurigen Hundeblick anguckt, der einfach unwiderstehlich ist.
»Ich habe dir doch gesagt, dass der Film viel zu gruselig für dich ist«, sage ich und lege ihr eine Hand auf die Schulter, während wir den Flur entlanggehen. Ich bringe sie zu Bett und stopfe die Decke fest, ehe ich mich neben sie lege. Ich wünsche ihr die süßesten Träume und streiche ihr das Haar aus dem Gesicht, während ich flüstere: »Keine Sorge. Schlaf ruhig ein. Es gibt keine Gespenster.«